Ein letzter Blick im Sonnenuntergang

Ein altes, baufälliges Haus im Sonnenuntergang.
Image by Myriams-Fotos from Pixabay.com

Für ihn hatte der Sonnenuntergang immer etwas Magisches. Er konnte regelrecht spüren, wie die Wärme sein Gesicht langsam verließ. Aber diesmal fühlte es sich dennoch anders an, als das rote Licht die Ruinen in der Ferne verschlang. Es war anders als jeder Sonnenuntergang zuvor. Und dennoch genoss er diesen Moment, während er auf der Terrasse saß. Seine Hand tastete vorsichtig nach dem Griff des gepackten Koffers, der neben dem Stuhl stand.

Während er die Sonne verfolgte, als diese sich dem Horizont näherte, sinnierte er noch einmal über sein Leben. Er hatte es immerhin bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschafft. Dieses Glück war vielen anderen verwehrt geblieben. Aber früher einmal schien die jetzige Situation ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.

Vor seinem geistigen Auge sah er die Bilder seiner Schulkameraden von einst. Wie sie ihn aufgefordert hatten bei den Protesten mitzumachen. Als ob dies je irgendetwas geändert hätte. Ausserdem gab es wichtigere Dinge im Leben als dieses Klimagedöns.

Er wusste damals ja auch nicht, wem man glauben sollte. Ja, da war der eine oder andere Erwachsene, der von der Lebensmittelkrise warnte. Und dennoch waren die Regale bis zum Schluss voll mit exotischen Früchten. Es hatte den Anschein als ob jeder nur nach Aufmerksamkeit schrie um das Ende der Welt hervorzurufen. Oder Dinge zu verkaufen, die keiner wirklich brauchte.

Er wollte ja auch nur das Leben geniessen, so wie alle anderen auch.

Nein, es war echt nicht vorherzusehen, dass er einmal auf der Terasse sitzen würde, um die Ruinen seiner geliebten Heimatstadt zu betrachten.
Selbst die führenden Wissenschaftler und Experten in den Medien waren überrascht von der Geschwindigkeit mit der sich alles aufzulösen schien.

Ein mutierter Virus folgte dem anderen. Die Lockdowns kamen und gingen. Immer schneller trockneten die grossen Flüsse des Kontinents aus. Eine fehlgeschlagene Ernte löste die nächste ab. Es dauerte nicht lange, bis die einst so vollen Supermarktregale leer blieben. DIe Flüchtlinge, welche ihr Lebensglück hier versuchen wollten wurden immer zahlreicher und kamen aus immer mehr Regionen des Planeten.
Die Menschen wurden unruhig. und fingen an zu protestieren.

Erst waren es kleinere Aktionen, aber es wurde immer wilder. Irgendwann in diesem Prozess hatten die meisten Menschen das Vertrauen in in die staatlichen Institutionen verloren, In seiner Jugend hatten diese Institutionen noch so unerschütterlich gewirkt.

Dann kam der Krieg. Mit ihm wurden die letzten Bänder des globalen Handelssystems zerrissen. Die Energieversorgung brach zusammen und die Menschen begannen zu frieren. Er hatte glücklicherweise das Haus geerbt. Die meisten Menschen konnten sich die Miete gar nicht mehr leisten, als die Spekulanten sich um die letzten Fetzen Land rissen.

Man sah es, erst langsam. In den Straßen und auf den Plätzen erschienen immer mehr Zelte. Selbst Grundnahrungsmittel wurden unerschwinglich. Man konnte den Menschen beim Sterben auf der Straße zuschauen.

Die Meisten versuchten abzuhauen. Oder sie verhungerten. Manche begingen Selbstmord aus Verzweiflung. Er konnte den Leuten nichts vorwerfen. Weder denen die kamen, noch denen die gingen. Was sollte man denn sonst tun?

Er aber war geblieben. Jetzt war er der letzte in seiner Stadt. Die meisten Staaten hatten bereits aufgehört zu existieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Hunger auch ihn einholte.

Er holte abermals tief Luft. Er musste sich besinnen. Er hatte gehört, dass irgendwo im Norden eine Gemeinschaft existierte. Das Gerücht besagte, dass sie noch Platz hatten. Und dass sie einen Weg gefunden hatten sich selbst zu versorgen. Der genaue Ort war ihm nicht bekannt. Nur dass es irgendwo in der Region lag, die einmal als Dänemark bekannt war.

Letzte Chance. Die Sonne war fast hinter dem Horizont verschwunden. Noch einmal schaute er auf die Ruinen, wie der Sonnenuntergang sie im roten Licht badete. Dann stand er von seinem Plastikstuhl auf und griff nach dem Koffer.


Diese Kurzgeschichte ist ein Teil der Sammlung “Fern von jetzt“. Eine Sammlung von Kurzgeschichten aus einer Zeit nach dem Klimakollaps.

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Alex

Alex

I am from Germany but have spent more than half of my life in Denmark, and other places abroad. I have a background in teaching, both youngsters and adults. I am interested in a wide field of things, which I love to teach and write about. Sustainability, technology, politics, social change, and mental health are just some examples.

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